Meine Lyrik

Ende der 90er, Anfang 2000 begann ich, mein Erlebtes und meine Gedanken in Gedichtform zu äußern.
Daraus erwuchs eine kleine Gemeinschaft und die Plattform Die Poetisten.
Aber irgendwann war wohl alles gesagt, oder die Depressionen begannen allmählich, mich zu lähmen – keine Ahnung.
Auf jeden Fall zog ich mich langsam zurück und damit starb leider auch diese kleine, feine Truppe an Poeten …

Alle Gedichte auf dieser Seite stammen - sofern nicht anders gekennzeichnet - aus der Feder von Marja Biecker und sind lizensiert:
CC Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International

CC-BY-NC-ND


Eine Auswahl:

Arschtritt

Wie spät ist es?
Es ist Bastardzeit!
Ich suche meine
Zahnbürste
und finde doch nur
Borsten.
Wo soll das enden?
Am Cembalo, mein Freund —
und dann hau’n wir in die Tasten!
Schwarz und weiß,
laut und leis‘,
und dazwischen —
Mittelmäßigkeit.
Also ab mit den Haaren
und ins Becken gespuckt —
auf dass der Abfluss
das Leben schluckt.
Ja!
Ich lebe!
Verdammt!

Die Worte fließen!

Böses Tier

Er kotzt.
Ein Hund –
denkt sie
Ein Hund
und gar
nicht artig
Nimmt Zeitung
sie und
krallt ins
Haar die
kalte Hand
zieht nieder
Kopf von
kotzend Tier
die Nase
rein ins
fleischig Nasse
tiefer tunken
und von
hinten klatscht
die Zeitung

böses Tier

Butterbrote

Ich kann dich
nicht sehen –
ich komme auch
nicht wieder,
da du nie meine
Hand gehalten hast,
wenn wir schweigend
Butter auf die
Brote schmierten.

Es gibt einen Ort,
an den die merkwürdigen
Menschen gehen –
dort werde ich anklopfen
und sehen,
ob sie mir neuen
Saft in die Adern
pressen können –
oh Glückseligkeit!

Bis es soweit ist,
bleibe ich auf der
Bettkante sitzen
und erwarte
die Ankunft
des Heute.

Der See

„Der See“, so sagt ein alter Mann,
„singt mir die schönsten Lieder.
Wie meine erste Lieb‘ begann
geschmückt in Sehnsuchtsflieder –

küssenaß die Lippen lachten,
ins Gras versanken, liebestoll –
sie Seelenwunder gar vollbrachten,
langsam ihr der Bauch anschwoll.

Ach!-
Ich sehne nach dem Gestern-Kraut,
die Seele hält’s benommen…
wurd‘ mir im Kindbett doch die Braut
an Gottes Seit‘ genommen.

Der See singt mir die schönsten Lieder,
verzaubert mich für Stunden.
Der Ort bringt mir mein Liebchen wieder
und läßt mein Herz gesunden.“

Der Wunsch

Honigfieber
befällt nackte Haut
Spinnwebenhaare
sind längst ergraut
und Eintagshornissen erblinden

Blaustichwunden
sprechen im Chor
Vorgartensteine
blicken empor
können Eiszeitkälte empfinden

Wasbleibtfrüchte
küssen den Wind
Endzeitkreaturen
möchten geschwind
im Mondenwasser entschwinden

NameDatumKommentar 
marjabalone2023-07-01Holy shit, ich wusste nicht, dass hier schon jemand reinschaut! :-p
Ist noch eine ganz frische Großbaustelle!
Aber danke, marxen, freut mich, dass es deinen Geschmack trifft :-D
📩
marx2023-06-28Holy shit, ich wusste nicht, dass du Lyrik schreibst. Das ist richtig gut.📩

Die Suche nach dem Sinn des Lebens ist deshalb so schwierig, weil wir mehreren Zwecken dienen

Das Buch, welches sich selber las,
war von sich selbst so fasziniert,
dass es die Buchstützen bat,
es von den anderen zu trennen.
Es brauche Ruhe, erklärte es,
und könne sich nicht mehr um das
alltägliche Geschwätz der anderen kümmern.
Die Zeit verging,
und es studierte
Vers für Vers
und
Wort für Wort
die Schwere seines Seins.
Es hatte gerade sich selbst gefunden
und wollte es froh den anderen verkünden-
da nahm der alte Mann
das Buch aus dem Regal
und
warf
es
in
den
Ofen.
Ihm war so kalt.

Einer kam

Einer kam
und nahm
was ihm schon längst gehörte
Einer kam
und deutete
was in die Wände meines Körpers
gemeißelt stand
Einer kam
und ergriff mich
griff in mich
und entriss mir mein Herz
zerriss es und las in ihm
Er sprach von
Liebe und Erfüllung
von Sex und Verdammnis
von Tod und Erlösung
von Gott und der Welt
Dann schwieg er
dann rieb er
die Hände
und forderte Lohn
Einer kam
und ging
mit einer Schüssel
voll Dreck.

Ereignislosigkeit

Ich lag auf dem Sofa und trank mein Bier,
während meine Ohren düsterer Musik lauschten.
WAVE – irgendwie ein bißchen krank,
aber auch diese Musik versucht nur,
einen Sinn zu finden.
Jetzt wär’s an der Zeit,
einen alten Namen zu nennen –
einfach, weil’s gut ankommt…
es macht was her.
Meine Sinne waren entrückt
wie die beim alten Baudelaire –
passt das? Egal – wer achtet schon darauf?
Namen nennen + Bier trinken =
etwas auf dem Kasten haben…
Die Familienfotos an der Wand,
gleichgültig wie eh und je –
die Wäsche muss schließlich ICH waschen.
Da entschloss sich die Erde plötzlich,
mal aus der Rolle zu fallen.
‚Ich hab Bock auf was Neues –
let’s move to outer spaces!‘
Ich dachte: ‚Hey, cool, Baby – ich bin bereit!‘
Die Stimmung war lässig, bis sie bemerkte,
dass ihr jemand einen Strich
durch die Rechnung machen wollte.
Sie wusste es nicht besser, also schrie sie zornig:
‚Fick Dich, Sonne, Du aufgedunsene Kuh –
kannst das Alleinsein wohl nicht ertragen?
Wo bleibt meine Individualität?
Irgendwann zahl ich Dir alles heim!‘
‚Scheiße‘, ging’s mir durch’s Hirn,
‚jetzt passiert wieder nichts.‘
‚Hey, Kleine‘, altklugte ich,
‚in 5 Milliarden Jahren wird dir
die fette Kuh aber mächtig einheizen!‘
‚Ach, halt’s Maul.‘ war die Antwort.
Ich lag auf dem Sofa,
und war irgendwie deprimiert.

Geist

Dein Geist ist schillernd
als bewege er sich zwischen
Tausenden von Fischen,
auf deren Haut das Sonnenlicht sich spiegelt –
ich tauche hinab (so blau…)
ich folge dir (so hell…)
fasziniert von deiner Eleganz –
plötzlich finde ich mich neben dir
plötzlich finde ich mich
plötzlich finde
ich dich –
licht…
ich sterbe,
um mit dir neu zu erwachen

Germaine

Wundersame Germaine
reißt ihre Augen aus
öffnet ihren Busen
reißt ihren Busen aus
und öffnet ihre Augen
Oh wundersame Germaine
was wirst du finden?

Glückliches Schicksal

Wenn ihr erwacht
dann der eine mehr
als der andere
und was der eine
als leichte Zwischentöne vernimmt
ist für den anderen ein lauer Sommerwind
Sie lacht dir
ihr Elend ins Gesicht
und du kochst ihr Götterspeise –
grün, weil Hoffnung doch
am besten schmeckt
Was am Abend bleibt
ist eine Note aus Hohn
und Unverständigung
die euch umschlingt
wie ein reines A –
unzertrennlich

Hausnummer 10, 3. Stock, letzte Tür

Da ist eine Straße
und da ist ein Haus
und in dem Haus
liegt eine Wunde
fleischig, blutig
mit Knopfaugen
und kleinen Pfoten
Kanalgestank
im Lebensmuskel
der noch zuckt
leblos
und unbemerkt

Ill communications

Schreibe mir doch
Gedanken auf den Tisch
dann zeichne ein Quadrat herum
und sage:
„So einfach ist das.“
Dann schreibe ich dir
Quadrate auf den Tisch
und zeichne Gedanken drum herum
und sage:
„Es ist alles so kompliziert.“

Katharsis

In dem Moment, als seine Augen brachen, entwich seinen Lippen ein entzücktes ‚Ooooohhhhh!‘ - es klang so herzrührend fröhlich-erstaunt!
Mein Blick folgte diesem Laut, welcher sich spiralförmig gen Himmel schraubte und allmählich goldschimmernde Flügel entfaltete, bezaubernd.
Er flog über Kuh-bespickte grüne Wiesen, atmete ihren Saft und sang mit den Fliegen ein Sommerlied der Freude.
Im Bach benetzte er seine Flügel mit dem kalten Nass und liess mich wonnig glucksen - mir war nach Herumkugeln am Wümmestrand und Wolkenschafe-Zählen.
Der Laut verneigte sich tief vor einem Regenwurm und liebkoste einen Weidenbaum. Das Blätterrauschen machte mich ganz trunken und mir war, als würd’ ich fliegen -
mit dem Laut an eisschleckenden Kindermündern vorbei, ins süße Fleisch reifer Sonnenkirschen eintauchend und im Meer unbekümmert tanzender Rittersporne ertrinkend.
Er ließ mich am Grund zurück und schwang sich wieder auf, um sich mit einem Zitronenfalter im Walzertakt zu wiegen.
Die ich einst nur Augen war, wurde nur noch Herz.
Und fand mich wieder neben jenem, dessen Augen gebrochen waren. Der Laut senkte sich nun auf meine Lippen, welche ihn sogleich wieder in die Welt schleuderten.
Ich küsste den Gebrochenen ein letztes Mal.

Verfasst: nicht mehr bekannt :(

Kreise auf dem Asphalt

Wie Kreise auf dem Asphalt
zeichnen sich ihre Gedanken
auf ihren Lippen ab
und ihr Mund wird Verheißung
Doch sobald sie ihn öffnet
legt jeder Augenblick
seinen Finger auf ihn —
und lässt sie sprachlos zurück

Laut

Du bist so laut –
alles an Dir schreit!
Hörst Du nicht auch
wie unaufhörlich Deine
Synapsen zischen
Nervenbahnen brummen
Adern quietschen
Säfte blubbern
Organe glucksen
Muskelfasern schnarren
Knochen knarzen
Augäpfel schmatzen
Nägel knacken?
Vielleicht bist du mir
deshalb so unsympathisch.

Morgens

Farbgetränkte Schattenwelt
Glanz-Visionen steigen auf
Grandios und still-gestählt
Fließen sie im Weltenlauf
Zeit verrinnt fast unbemerkt
Leise summt ein Lied in mir
Derart illusionsgestärkt
Warte ich am Seelenpier
Wildes Bäumen der Gefühle
Melodie des frühen Lachens
Sehn‘ Dich nach der Morgenkühle
Spür‘ die Kraft des Neuerwachens

Sanftmuttrümmerfelder

In Blei gegossen, giftig und schwer | schleichen Raubtiergebeine durch Sanftmuttrümmerfelder | Er dachte, er hätte es zu seinen Gunsten gewendet | dabei hat er es verschwendet, von Oberflächlichkeit geblendet | sein Leben, das solariengebräunt von goldeneren Zeiten träumt | In Blei gegossen, giftig und schwer | schleichen Raubtiergebeine durch Sanftmuttrümmerfelder | Sie sitzt vor dem Klo, hat den Wohlstand ausgekotzt | weil kranke Gene ihre Synapsen sitzblockieren | und von Idealen philosophieren, die vor der Logik kollabieren | Sieben Länder südlich, einen Kontinent entfernt | stellt man nicht die Frage, hat man nicht die Qual der Wahl | hyperschlank gilt nicht als chique, ist nicht Ausdruck der Kritik | an den dominanten Formen der Lebensführungsnormen | Könnten sie dort auch nur einen Bruchteil unseres Standards erleben | wär es wie ein Freifahrtticket in das ewige Leben | In Blei gegossen, giftig und schwer | schleichen Raubtiergebeine durch Sanftmuttrümmerfelder | Letzte Woche im Café lamentiertest du:“He!“ | Was ist das für eine Welt, in der Gemeinschaft nicht mehr zählt? | Anonym zu sein – allein – das soll der Sinn des Lebens sein? | Ihr lauft doch alle blind durch die Gegend, keinerlei Interesse hegend | was um euch herum geschieht – wer mit euch durchs Leben zieht | Ich dagegen nehme Anteil, geb mich nicht dem Anschein hin | Heute abend, wie fast täglich, geh ich kurz zur Nachbarin.“ | „Meinst du etwa Frau von Roth? Die ist seit sechs Wochen tot…“ | In Blei gegossen, giftig und schwer | schleichen Raubtiergebeine durch Sanftmuttrümmerfelder

Science fiction Jazz

Hüpf von der vier
über die eins
(Spannung)
gleich auf die zwei
Füge Zwischenschritte
(tippel, tippel, tippel)
ein
und gelange wieder
zur Absprungstelle
Lebensgroove
Setz ziellos das Highhat
(zing/tippel, zing/tippel, tippel, zing)
Farbnuancen gleich
Klecks hier, Klecks dort
Auflockerung des Systems
Hüpfe
Schwebe
Fliege
getragen von
sphärischen Klängen
aus der Hammond-Orgel
Co-Musiker kommen
und gehen
Combofluss
Dann und wann
treten Snaredrums
in Deinen Hintern
Drill, in Maßen,
schadet nicht
Aber meide gleichförmige
Notenverteilung
und am Ende
bleibt nur ein Fazit:
„Das war eine coole Session!“

Seelenfäulnis

Ich habe Pickel an den unmöglichsten Stellen | werden wohl Probleme sein, die eitrig aufquellen | Beulen – Keulen meiner verunstalteten Seele | Ich breche sie auf und zu meinem Vergnügen quäle | ich die voyeuristische Welt mit dem, was sich schon so lange darin aufhält | Was ich zu sagen habe, kann niemand verstehen | schließlich musste ich den Weg zur Erkenntnis alleine gehen | Trotzdem schrei’ ich mein Leiden laut hinaus, okay? | Ich filter mein Leben auch gerne mal mit OCB | zeichne es hart, schärf die Konturen | und folge mir selbst auf tief verdrängten Spuren | Fühlst Du den Glibber, riechst Du das Elend? | Atme den Schwefel, der mir aus dem Mund rinnt | Dies nicht zu erleben ist ein echtes Versäumnis | Welt, ergötz Dich an meiner persönlichen Seelenfäulnis | Dass ich ein Narzisst bin, ist mir bewusst | Aber das ist der Acker, auf dem Eure Bewunderung fußt | Ich nenn’ mich Prophet, setz mich auf meinen Thron | und Ihr reagiert genau nach meiner Kalkulation | Ich erzähl Euch, wie das Leben wirklich ist | dass es mich in meiner Einsamkeit völlig vergisst | Ich spreche von Schmerzen, vergewaltige Eure Herzen | will es mir mit Eurer Harmoniebedürftigkeit nicht verscherzen | bettle um Hilfe, um Beistand und Rat | dabei habe ich schon längst meine Lösung parat | Warum mein Leid vergessen? Schließlich seid Ihr darauf versessen | meinen Kopf in Euren warmen Mutterschoß zu pressen | und mir zu sagen: „Du hast recht – doch nicht alles ist schlecht!“ | Echt? Mein Gott, was für eine Weitsicht! Wie lang suchtet ihr nach dieser Einsicht? | Ihr fühlt Euch wie die größten Weisen in der Geschichte | und wartet sehnsüchtig auf weitere Gedichte | die Euch berühren und heftigst Euer Mitleid entfachen | Ich dreh mich um und kann nur eines – lauthals lachen … | Fühlst Du den Glibber, riechst Du das Elend? | Atme den Schwefel, der mir aus dem Mund rinnt | Dies nicht zu erleben ist ein echtes Versäumnis | Welt, ergötz Dich an meiner persönlichen Seelenfäulnis

Suchtsüchtig

Dry Gin
rinn
in
meinen Sinn
(sinnlos)
Los
betäub
bestäub
beraub mich
meines Bewusstseins
(bewusstlos)
Los
verführ
berühr
mein Gespür
— zeig mir die Tür
in eine andere Wahrheit
(Daseinsfrage)
Du Plage
ich verzage —
und versage…
Bewusstseinserweiterung?
Nicht hier
nicht in mir
nicht mit dir
(Schluss)
Ein letzter Kuss
ab in den Abfluss —
ans Meer einen Gruß
Adios Genuss
(Eigene Regie – wie?)
Ironie?
Salut Sherry
mon chéri —
zeig mir deine
Philosophie!
Genie?
Geh nie…
Suchtsüchtig

Tempestas

Ein Zucken kitzelt den Himmel wieder und wieder
Tropfen in Scharen begatten die Erde
Während die Luft ganz gegen ihre Art
kraftgewaltig gegen Bäume wirkt
Krachen – weil ein Riese seinen Arm verliert
Krachen – weil die Welt vor Spannung schreit
Und wir rennen durch die Straßen und
nehmen das Chaos in die Hand und in uns auf
und Augen brennen und funkeln

Treib-Gut

Der Stein der Weisen schweigt
unerreichbar fern in tiefsten Wassern
und kein bebendes Bitten,
kein sehnsüchtiges Zittern
meines kochenden Blutes
wird ihn emporschleudern,
anziehen an mich.
So sinke ich zurück in die Fluten –
und mein Auge erschaut,
mein Geist ergreift,
wohin der Strom mich treibt.
Am Ende trifft mich Staunen.

U-Bahn-Station

Aus Platzmangel entsteht Chaos
und der Magen erzählt wundersame Geschichten
Königreiche aus Unverdautem
Knochenreinigende Flüsse weisen
dem aufgeweichten Ritter
den Weg in ein felsversprengtes Land
Da wartet keine Prinzessin
Da gibt es nur schlechte Luft
und ab und zu einen Regen
herzerweichend und hautzersetzend
sturmgepeitscht in den Boden stürzend
Irgendwo wartet ein Ziegenbock
mit Bart und auf zwei Beinen
die Arme ausgebreitet zur Begrüßung
und seine Knopfaugen stechen
ein Bergwerk ins Gewissen
Was die Loren fördern, läßt jeden stürzen
in den Schlamm – und versinken
Das ist erst der Anfang

Walrösser am Strand

Du hast sie gesehen
ihr Körper mond-nackt
Du hast sie gespürt
ihre Worte eisvogel-nass
Man tauscht Telefonnummern
doch du verlierst sie sofort
wie du alles verlieren wirst
weil die Walrösser am Strand
noch nicht fortgegangen sind
und ein Kupferblick
huscht über das Land

Wie so oft

„Gespräche sind das A und O!“
sagt sie — und leert ihr Weinglas
Mein Blick sieht sie an
und fragt sich, wie so oft,
warum es im Schrank
nach Gardenien duftet?
Vielleicht verfing sich ein Hauch
des vergangenen Sommers in ihm —
und plaudert dort mit meinen Erinnerungen
über die Flüchtigkeit eines Moments?
Sie schaut mich an und murmelt:
„Ich verstehe dich.“
Wie so oft…

Zwischensequenz

„Atempause gibt es nicht. Auf der Straße, die jeder liebt und jeder hasst, ist Stillstand Alltag und dennoch herrscht Stroboskop-Show-Emsigkeit. In 20 Jahren möchte ich lieber als Asche im Magen eines Fisches durch die Meere ziehen — oder wenigstens durch den Darmtrakt eines Wurms die Erde befruchten —, als weiterhin in dieser Daseinsform auf der Straße den Veits zu tanzen. Aber wie gesagt, erst in 20 Jahren — damit ich dann noch ein selbstgefälliges Lächeln aufsetzen kann mit den Worten: „Seht ihr, ich hab’s ja gleich gesagt — es wird so kommen!“ (Weltpolitisch-tiefenphilosophisch-extremtheologisch und so, wie es da steht, zu verstehen.) Und dann folgt die Selbstauflösung.“

Fremde Worte

Ein Platz zur Archivierung meiner liebsten Gedichte, Kurzgeschichten, Zitate und Songtexte.
Ich werde mich bemühen, auch immer den Urheber zu benennen.
Aber grundsätzlich gilt: alles, was hier landet, ist nicht auf meinem Mist gewachsen.

An Melinde

Nicht schäme dich / du saubere Melinde /
Daß deine zarte reinligkeit
Der feuchte mond verweist in eine binde /
Und dir den bunten einfluß dräut.
Der grosse belt hegt ebb‘ und flut /
Was wunder / wenns der mensch der kleine thut.

Die röthligkeit bei deinen bunten sachen
Hat niemahls deinen schooß versehrt.
Wie muscheln sich durch purpur theuer machen /
So macht dein schnecken-blut dich werth.
Wer liebt ein dinten-meer wohl nicht /
Weil man daraus corallen-zincken bricht?

Nur einmahl bringt das gantze jahr uns nelcken /
Dein blumen-busch bringts monatlich /
Dein rosen-strauch mag nicht verwelcken /
Sein dorn der hält bey dir nicht stich /
Denn was die sanfften blätter macht /
Das ist ein thau von der johannis-nacht.

Kanst du gleich nicht die lenden hurtig rühren /
Lobt man dich doch im stille stehn /
Der augenblau wird leichtlich sich verlieren /
Denn wirst du seyn noch eins so schön.
Man sammlet / spricht die gantze welt /
Viel besser frucht / wenn starcke blüte fällt.

Laß mich darum doch keine fasten halten /
Ein könig nimmt den schranck zwar ein /
Doch muß er fort / wann sich die wasser spalten /
Der geist muß ausgestossen seyn.
Man geht / wie iedermann bekandt /
Durchs rothe meer in das gelobte land.

Johann von Besser · 1654-1729

Der Staubbaum

Ein Staubbaum wächst
Ein Staubwald überall wo wir gegangen
Und diese Staubhand weh! rühr sie nicht an!

Rings um uns steigen Türme des Vergessens
Türme die nach innen fallen
Aber noch bestrahlt von deinem orangenen Licht!
Ein Staubvogel fliegt auf

Die Sage unsrer Liebe laß ich in Quarz verwahren
Das Gold unsrer Träume in einer Wüste vergraben
Der Staubwald wird immer dunkler
Weh! Rühr diese Staubrose nicht an!

Yvan Goll · 1891-1950

Dämmerung

Komm, ich will mich ausziehn!
Das Licht ist schon fort, und ich bin
meiner Kleider so müde.
Zieh mich aus, damit sie glauben
ich sei gestorben, denn nackt
schlaf ich die ganze Nacht,
während sie meinen Schlaf bewachen.
Denn morgen früh, ganz früh,
will ich mein Nackt ausziehen
und in einen Fluß gehn und mich baden,
während Kleid mit Kleide sie
für immer dann verwahren.
Komm, Tod, ich bin ein Kind
und will ausgezogen werden,
denn das Licht ist schon fort und ich
bin meiner Kleider so müde.

Manuel Altolaguirre · 1905-1959

Die Dämmerung

Ein dicker Junge spielt mit einem Teich.
Der Wind hat sich in einem Baum gefangen.
Der Himmel sieht verbummelt aus und bleich,
Als wäre ihm die Schminke ausgegangen.
Auf lange Krücken schief herabgebückt
Und schwatzend kriechen auf dem Feld zwei Lahme.
Ein blonder Dichter wird vielleicht verrückt.
Ein Pferdchen stolpert über eine Dame.
An einem Fenster klebt ein fetter Mann.
Ein Jüngling will ein weiches Weib besuchen.
Ein grauer Clown zieht sich die Stiefel an.
Ein Kinderwagen schreit und Hunde fluchen.

Alfred Lichtenstein · 1889-1914

Die Einsamkeit von zwei Milliarden Lichtjahren

Die Menschheit auf ihrer kleinen Kugel
geht schlafen, erhebt sich und arbeitet
und manchmal wünscht sie sich Gefährten auf dem Mars

Die Marsmenschen auf ihrer kleinen Kugel
was tun sie? ich weiß nicht
(ob sie schlafafen, rebeben und rabeiten?)
aber manchmal wünschen sie sich Gefährten auf der Erde
das steht völlig außer Zweifel

Die allgemeine Gravitation
das ist die Kraft der sich anziehenden Einsamkeiten

Das Weltall ist gekrümmt
darum streben alle zueinander

Das Weltall dehnt sich rasend schnell aus
darum sind wir alle ruhelos

In der Einsamkeit von zwei Milliarden Lichtjahren
mußte ich unversehends niesen

Tanikawa Shuntarō · 1931-

Elegie auf den toten Freund

Du kommst zurück zum Garten, unter meine Feige,
und deine Seele schwirrt im hohen
Gerüst der Blumen, so wie eine Biene,
die Wachs einsammelt für die Engelskerzen.
Du kommst zurück, da wo sich die Verliebten sehn,
zum Flüstern an den Fenstergittern.

Das Düster meines Blicks wird sich erheitern,
und deine Braut wird mit den Bienen streiten,
ob ihnen oder ihr dein Blut gehört.
Dein Herz jedoch, den Samt, der schon verknittert,
ruf mit der Habgier meiner Liebe ich
zu einem Feld von schaumigen Mandelblüten.

Beim Mandelbaum mit seinen Flügelseelen
aus Rosen wie von Rahm wart ich auf dich,
wir haben von so viel zu reden,
mein Freund, mein einziger! Du und ich!

Miguel Hernández · 1910-1942

Gesänge

I
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
Leben und Tod, Befruchten und Gebären
glitte aus unseren stummen Säften vor.
Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel,
vom Wind Geformtes und nach unten schwer.
Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel
wäre zu weit und litte schon zu sehr.

II
Verächtlich sind die Liebenden, die Spötter,
alles Verzweifeln, Sehnsucht, und wer hofft.
Wir sind so schmerzliche durchseuchte Götter
und dennoch denken wir des Gottes oft.
Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume.
Die Sterne, schneeballblütengroß und schwer.
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer –

Gottfried Benn · 1886-1956

Anmerkung: Ich liebe vor allem den ersten Teil.

Seemannstreue

Nafikare necesse est.
Meine längste Braut war Alwine.
Ihrer blauen Augen Gelatine
Ist schon längst zerlaufen und verwest. –
Alwine sang so schön das Lied:
„Ein Jäger aus Kurpfalz“.

Wie Passatwind stand ihr der Humor.
– Sonntags morgens wurde sie bestattet
In der Heide, wo kein Bäumchen schattet,
Du auch ihre Unschuld einst verlor.

Donnerstags grub ich sie wieder aus.
Da kamen mir schon ihre Ohrlappen
So sonderbar vor.

Freitags grub ich sie wieder ein.
Niemand sah das in der stillen Heide. –
Montags wieder aus. Von ihrem Kleide,
Das man ihr ins Grab gegeben hatte,
Schnitt ich einer Handbreit gelber Seide,
Und die trägt mein Bruder als Krawatte. –
Gruslig wars: Bei dunklem oder feuchten
Wetter fing Alwine an zu leuchten.
Trotzdem parallel zu ihr verweilen
Wollt ich ewiglich und immerdar.
Bis sie schließlich an den weichen Teilen
Schon ganz anders und ganz flüssig war.

Aus. Ein. Aus; so grub ich viele Wochen.
Doch es hat zuletzt zu schlecht gerochen.
Und die Nase wurde blauer Saft,
Wo drin lange Fadenwürmer krochen. –
Nichts für ungut: Das war ekelhaft. –
Und zuletzt sind mir die schlüpfrigen Knochen
Ausgeglitten und in lauter Stücke zerbrochen.

Und so nahm ich Abschied von die Stücke.
Ging mit einem Schoner nach Iquique,
Ohne jemals wieder ihr Gebein
Auszugraben. Oder anzufassen.

Denn man soll die Toten schlafen lassen.

Joachim Ringelnatz · 1883-1934

Sieben Septillionen Jahre

Sieben Septillionen Jahre
zählte ich die Meilensteine am Rande der Milchstrasse.
Sie endeten nicht.
Myriaden von Aeonen
versank ich in die Wunder eines einzigen Thautröpfchens.
Es erschlossen sich immer neue.
Mein Herz erzitterte!
Selig ins Moos
streckte ich mich und wurde Erde.
Jetzt ranken Brombeeren
über mir,
auf einem sich wiegenden Schlehdornzweig
zwitschert ein Rotkehlchen.
Aus meiner Brust
springt fröhlich ein Quell,
aus meinem Schädel
wachsen Blumen.

Arno Holz · 1863-1929

Are friends electric?


It’s cold outside
And the paint’s peeling off of my walls
There’s a man outside
In a long coat, grey hat, smoking a cigarette

Now the light fades out
And I’m wondering what I’m doing in a room like this
There’s a knock on the door
And just for a second I thought I remembered you

So now I’m alone
Now I can think for myself
About little deals
And S.U.’s
And things that I just don’t understand
Like a white lie that night
Or a slight touch at times
I don’t think it meant anything to you

So I open the door
It’s the friend that I’d left in the hallway
„Please sit down“
A candle lit a shadow on a wall near the bed

You know I hate to ask
But, are friends electric?
Mine’s broke down
And now I’ve no one to love

So I find out your reason
For the phone calls and smiles
And it hurts
And I’m lonely
And I should never have tried
And I missed you tonight
So it’s time to leave
You see this means everything to me

Tubeway Army · Are friends electric?

Die Wahrheit


Und ich denk schon wieder an den Himmel über Shanghai und wie wir ihn verloren haben.
Ich will jeden Tag da sein, wo mich jeder noch als jemand anders kennt.
Ich brauch mehr Platz, ich brauch mehr Geld, ich will meine Stimme im Radio hör’n.
Ich will in deinem Bett sein und fernseh’n, während du neben mir liegst und schläfst.
Und ich will Sterne im Haar.

Und ich will dir die Wahrheit nicht sagen.

Ich will die Farbe meiner Augen verändern können, je nachdem, mit wem ich sprechen muß.
Und ich hätte gerne zwei weiße Pferde, die an mein Fenster kommen und sagen: „Olli geht es gut.“
Ich will den besten Anzug für 30 Mark. Und dass die Neunziger endlich zu Ende sind.
Ich will immer wissen, dass ich zu dir kann. Ich will jede Nacht die Sonne seh’n.
Und ich will Sterne im Haar.

Und ich will dir die Wahrheit nicht sagen.

Systemhysterie · Die Wahrheit

Du darfst nicht vergessen zu essen


Du drehst an der Mühle
Und leierst dich aus
Und du kannst nicht mehr
Weil du glaubst du bist zu schlecht
Vielleicht hast du recht
Es hat niemand behauptet
Du hättest eine Chance
Und wenn war es vielleicht gelogen
Aber das weißt du auch
Es ist ein alter Brauch

Nur du darfst nicht vergessen
Zu essen

Ich bin aufgewacht
Ich wollte sehen daß du schläfst
Auf die väterliche Tour
Und jetzt will ich daß du dich bewegst
Weg von der Stelle wo das Loch ist
Daß dich auffrißt
Und sonst nichts
Außer Möglichkeiten
Und ab und zu ein Gedanke an
Die Vergänglichkeit
Arm in Arm
Ist ein Kreis
Und kein Ausweg

Und du darfst nicht vergessen
Zu essen

Eine Kaugummiwelt
Die dich nicht wirklich
Sondern so tut als ob
Sie dich zusammenhält
Und sie verklebt dir den Magen
Und du mußt dich übergeben
Und kotzt das bißchen Leben in die Schüssel
Soweit so gut mal überlegen…

Zu essen
Fressen und gefressen werden

Die Sterne · Du darfst nicht vergessen zu essen

Ich hab' geschrieben


Ich hatte Schmerzen und daher wusste ich, dass ich wach war
Ganz allein nur mit der Stille als mein Nachbar
Die Luft war erfüllt mit Nervengift und wie bekifft
Starrte ich auf meine Hand als ich begriff, dass sie zum Stift griff
Lauter Buchstaben entstanden mit Hilfe von Schreibwaren
Was ich schreib war 'n Resultat von einem Schreibwahn
Ich war Teil einer Vision, die aus mir selbst entstand
Irgendetwas lenkt meine Gedanken und dieser Gedanke lenkt meine Hand
Ich hab' soviel geschrieben, aber niemand hört her
Würde der Welt zu gerne sagen, was ich wert wär'
Die Mine brach, aber ich schrieb' weiter. Die nie gesagten Worte rächen sich
Aber die Bleistifte in meinem Gedächtnis, die brechen nicht
Ich hab geschrieben bis meine Finger wund warn'
Weil kein einziger Ton mehr aus meinem Mund kam, denn als du gingst
Ging auch meine Kraft zu reden fort wie ein Knebel in meinem
Mund an diesem Tag wurde mein Leben zu Nebel
Und ich ging auf die Straße mit meinem Marker, es hat niemand gemerkt
Seit diesem Tag hab ich Züge gesprüht und die Wände von Heidelberg gefärbt
Ich hab meinen Namen gemalt, 1000 Mal und mehr
Meist als Meisterwerk, damit es das Selbstbewusstsein stärkt
Ich hab Tags mit nem Stein in die Scheiben von Bushaltestellen gekratzt
Damit mir der Kopf nicht platzt!
Ich hab soviel geschrieben in der Schule auf Tischen, Bänken und Toiletten
Ich wollte rappen aber ich schwieg und schrieb' und ich
Schweig und schreib' über die Grammatik der Farbe Blau
Werte der Worte im im Sprung der Zeit zwischen Mann und Frau
Interpretation, Aufsatz, Diktat, Gedicht
Ein Wort das ich noch nicht geschrieben hab, das gibt es nicht
Aber es gibt drei Worte die sind nur für dich
Ich hab' sie dir nie gesagt und das bereu' ich heute fürchterlich
Ja ich hab's bereut also hab ich meinen Schmerz beschrieben
Du hast mich aufgegeben also hab' ich meinen Schmerz aufgeschrieben
In der Zeit zwischen den Träumen da kann ich schreiben
Exhibitionist gegenüber dem Blatt, ich muss ihm einfach mein Intimstes zeigen
Ich traf so viele Frauen, schrieb' ihre Nummern auf
Aber ich rief nie an weil ich nicht mehr sprechen kann
Ich weiß noch wie nach dem Konzert der Junge zu mir kam
Ich wollt' ihm so viel sagen, ihn warn', aber die Zeit reichte nur für ein Autogramm
Ich hab versagt deswegen sag ich nichts mehr
Als ich leise oben an der Decke lag so leer
Wie ein weißes Blatt flog ich in meinem Zimmer umher
Auf dem Bett bleib' ich liegen und dann beweg' ich mich nie mehr ich dreh den Kopf
Gleich neben mir da liegen sie Blätter mit 1000 intensiven Gedanken
Geformt in Worte wenn man schreibt dann sprechen sie
Da in dem Schuhkarton fließen sie, hörst du sie murmeln
Deinen Namen, ein einziges Wort, das mir im Schlaf den Schweiß auf die Stirn treibt
Wenn man schweigt kann ich hören, welchen Scheiß auch mein Gehirn schreibt
Ich hab soviel geschrieben, aber niemand hat's gehört, oder hast du?
All ihr Lieder, Noten und Worte gebt doch endlich Ruh'
Lasst mich allein. Ich wollte schrein'
Aber vom träumen wurd' ich müde und so schlief ich endlich ein
Wälzte mich wie wild hin und her und fiel vom Bett
Direkt in die Schachtel mit den Texten vor Schreck
Musste ich erkennen, dass ich kein Mensch mehr war
Eingeklemmt zwischen dem A und dem K wurde es mir klar ich war
Der 27 Buchstabe. Das komplette Alphabet stand gegen mich
Sie starrten mich an und lachten mich aus
Die Sätze sagten ich sei aussätzig und so setzten sie mich aus
Und formten sich zu einem Sinn zusammen und ich konnte mein gesamtes Leben lesen
Dann wachte ich auf und tat einfach so, als sein nichts gewesen
Ja, Rap ist ne Religion, das ist klar
Aber wo war Gott als ich alleine mit meinen Reimen war?
Es war viel zu vieles klar, um noch was zu klärn'
Und viel zu vieles wahr, um sich dagegen zu wehren
Und als wären alle Worte gegen mich, schreibe ich und kämpfe ich
Solange bis ich die richtigen Worte find' für dich
Auf die Bettdecke, auf die Tapete und auf meine Haut
Ich hab' in meine Bücher geschaut, sie waren leer, aufnehmen geht nicht mehr
Heut' muss ich alles raus, was ich gelesen hab und gewesen bin
Ich schreib' es hin. Ich hab geschrieben als würde ich deinen Körper zeichnen
Den Stift über die Blätter streichen und zärtlich über deinen Rücken streicheln
Stundenlang hab ich geschrieben, wie Leid es mir tat
Hätt' ich's dir gesagt hätte ich uns viel erspart, zu spät, was ist geblieben
An einem Tag hab' ich stark an dich gedacht, Ich hab' geweint
Gereimt und mit meinen Tränen dir diesen Text geschrieben

Torch · Ich hab' geschrieben

Immer wieder eine Lanze werfen


Immer wieder eine Lanze werfen
Wenn sie trifft, verblute ich
Ach, ich wollte mir mein Schwert noch schärfen
Doch am Ende treff ich mich

Jede Schlinge, die ich lege
Dich an mich zu binden
Ist zum Schluss mir selbst im Wege
Will sich um mich winden

Jedes kalte Wort zum Abschied
Das ich schleudern will
Wird ein Weinen und ein Lied
Darum bin ich lieber still

Laß dich gehn aus meinem Leben
Laß dich nun in Ruh
Und will ich dir einen Abschied geben
Hör mir nicht mehr zu

Bettina Wegner · Immer wieder eine Lanze werfen

Leb so, dass es alle wissen wollen


Ich war im Auto, hab die Ampeln angeschrien
Und gewusst, dass das keine Lösung ist
Ich ging zum Arzt, er gab mir einen gelben Schein
Und sagte, dass das aber keine Lösung ist
Ich hab versucht mir meine Kräfte einzuteilen
Und vor lauter Ruhe gar nichts mehr gemacht
Liegengebliebenes wollte ich aufholen
Und ich lief am Ende meinem Eisberg doch nur hinterher

Ich stopfte Essen, Rauch und Menschen in mich rein
Und ich lernte, dass das keine Lösung ist
Und mein Vermögen hab ich einfach so zum Fenster rausgeworfen
Und begriffen, dass das keine Lösung ist
Die Rituale der Idioten wollte ich im Keim ersticken
Mit dem Finger auf sie zeigen, um kein Idiot zu sein
So bin ich abends oft zu Haus geblieben
Und wollte trotzdem alle Menschen lieben

Probleme meiner Freunde wollte ich für sie lösen
Und am Ende war ich Teil des Problems
Ich wollte bei mir sein und niemandem mehr nützlich sein
Und was ich dann erfuhr, war die Rache des Systems
Und dich hab ich benutzt,
Weil du schwächer bist als meine letzte Freundin
Für die ich keine Lösung war
Wir haben versucht zu tun, als ob wir nur in's Bett gehen
Und du hast gemerkt, dass das keine Lösung ist

Sprich nicht drüber, außer wenn dich jemand fragt
Leb so, dass es alle wissen wollen
Die Gedanken der Menschen sind nur ein Hauch
Gib mir nicht was ich mir wünsche, sondern was ich brauch
Ich hab an Gestern nicht gedacht und nicht an Morgen
Es ist Nacht, ich steh am Fenster
Und für einen Augenblick leb ich im Jetzt

Dem Hass der Welt und ihrer Dummheit mit
Zynismus zu begegnen hat zum Leben nicht gereicht
Allein das Schöne sehen ging auch nicht
Denn es gibt zu viele Dinge, die nichts Schönes in sich tragen
Ich hab mich angestrengt im Jahreszeitenrythmus zu pulsieren
Und dann fiel ich in Zeitlupe aus der Zeit
Und meine Smartphone-Freunde rieten mir am Puls der Zeit zu sein
Und ich wäre beinahe aus mir selber rausgefallen

Ich hab die Themen wie Zitronen ausgepresst
Und die Menschen wollt ich umgestalten
Ich hab versucht das große Ganze zu begreifen
Und mich doch mit tausend Fragen aufgehalten
Und einer den ich noch von früher kenn, der sagte:
"Lass die Menschen endlich bleiben wie sie sind
Benutz sie nicht als weiße Wand für deine Unzufriedenheit
Sei ein Mann und sei kein Kind."
Das kam mir einfach vor und mein Gewissen wurde schlecht
Und ein Gedanke sagte: "Mach es allen recht."
Ich ging nach Hause, um mich neu zu überdenken
Und im besten Fall mich nochmal zu erfinden

Und ich verlief mich in der Stadt
In der ich Jahre lang schon lebe
Und mein letztes Geld gab ich einem Blinden
Der darauf sagte, ihm wäre die Unsterblichkeit geschenkt
Doch ich wusste, dass das keine Lösung ist
Es wurde Abend, Nacht und Morgen, ich blieb wach die ganze Zeit
Und ich wusste, dass das keine Lösung ist

(2x) Sprich nicht drüber, außer wenn dich jemand fragt
Leb so, dass es alle wissen wollen
Die Gedanken der Menschen sind nur ein Hauch
Gib mir nicht was ich mir wünsche, sondern was ich brauch
Ich hab an Gestern nicht gedacht und nicht an Morgen
Es ist Nacht, ich steh am Fenster
Und für einen Augenblick leb ich im Jetzt

Keine Zähne Im Maul Aber La Paloma Pfeifen · Leb so, dass es alle wissen wollen

Requiem pour un con / Requiem für ein Arschloch


Écoute les orgues
Elles jouent pour toi
Il est terrible cet air là
J’espère que tu aimes
C’est assez beau non
C’est le requiem pour un con

Je l’ai composé spécialement pour toi
A ta mémoire de scélérat
C’est un joli thème
Tu ne trouves pas
Semblable à toi même
Pauvre con

Voici les orgues
Qui remettent ça
Faut qu’t’apprennes par coeur cet air là
Que tu n’aies pas même
Une hésitation
Sur le requiem pour un con

Quoi tu me regardes
Tu n’apprécies pas
Mais qu’est-ce qu’y a là dedans
Qui t’plaît pas
Pour moi c’est idem
Que ça t’plaise ou non
J’te l’rejoue quand même
Pauvre con

Écoute les orgues
Elles jouent pour toi
Il est terrible cet air là
J’espère que tu aimes
C’est assez beau non
C’est le requiem pour un con

Je l’ai composé spécialement pour toi
A ta mémoire de scélérat
Sur ta figure blême
Aux murs des prisons
J’inscrirai moi-même: „Pauvre con“

Serge Gainsbourg · Requiem pour un con

Hör nur die Orgeln,
sie spielen für dich.
Die Melodie ist furchtbar,
aber ich hoffe, du magst sie.
Sie ist schön genug, oder?
Das ist das Requiem für ein Arschloch.

Ich habe es extra für dich komponiert,
als Erinnerung an dich als Schurke.
Es hat ein schönes Thema,
findest du nicht auch?
Es ähnelt dir selbst,
armes Arschloch

Da sind die Orgeln,
sie legen wieder los.
Lerne dieses Lied auswendig,
damit du nicht ein einziges Mal
ins Stocken gerätst
beim Requiem für ein Arschloch.

Was schaust du mich an?
Magst du es nicht?
Aber was daran
gefällt dir denn nicht?
Ob du’s willst oder nicht –
ich spiel’s trotzdem nochmal,
armes Arschloch

Hör nur die Orgeln,
sie spielen für dich.
Die Melodie ist furchtbar,
aber ich hoffe, du magst sie.
Sie ist schön genug, oder?
Das ist das Requiem für ein Arschloch.

Ich habe es extra für dich komponiert,
als Erinnerung an dich als Schurke.
Auf dein blasses Gesicht
und auf jede Gefängnismauer
werde ich es schreiben:
"Armes Arschloch"

Serge Gainsbourg · Requiem pour un con · von mir übersetzt

Themenläden


Ende der 90er, eine WG in Darmstadt-Weiterstadt. S. lässt ein Album laufen, und da ertönt eine schwere Melancholie, Wörter, die direkt ins Herz treffen, und ich weiß sofort, das bin ich. Bis heute ist dies der Song meines Lebens.

Ein kleiner Floh hüpft durch sein Großhirn
Und schaut sich endlich selber zu.
‚Ich kann das aber nicht aushalten‘,
denkt er sich so.
Was hat sich verändert in all dieser Zeit und wo?
War ich dabei überhaupt,
oder habe ich nur zugeschaut
und bemerkt, wie beschäftigt ich war?
Machen wir′s kurz:
Da hilft auch kein Selbstfindungskurs mehr –
nach dem Vergessen.

All diese Jahre.
Mit manchen von ihnen hast du geschlafen,
mit anderen nicht,
Ab und zu hast Du gedacht ‚Es ist auch ganz gut,
dass das passiert, was passiert ist‘ –
Selbstbetrug.
Immer hat sich irgendwas ergeben,
und es gab immer genug zu bereden.
Es gibt Themen genug in deinem eigenen Leben,
und wenn sie einmal ausgehen, gibt es Themenläden.

Hält dich das aus, was dich aufhält?
Gehörst du dazu – und wie hältst du das aus?

Zwischendurch der Beschluss:
‚Wir sind doch eigentlich ganz froh.‘
Doch dann schaust du raus und erkennst:
Die Verhältnisse, die sind nicht so.
Vielleicht bist du aber auch ganz gut darin,
das nicht zu bemerken.
Fließt da überhaupt noch Blut in deine Füße,
in deinen kindischen Gerechtigkeitssinn?

Immer Schwierigkeiten,
immer gerade so zu schaffen,
und so macht man sich auf Dauer halt zum Schwierigkeitenaffen.
Trifft befreundete Primaten in den Kneipen und im Garten.
Wartend – auf die große Sause.
Oder einfach nur, oder besser noch –
die große Pause.

Hält dich das aus, was dich aufhält?
Gehörst du dazu – und wie hältst du das aus?

Die Sterne · Themenläden

Kleingeld für die Überfahrt

»Kleingeld«, sagte meine Tante, als ich den Obulus auf ihre Zunge legte. »Da, wo ich hingehe, brauche ich bestimmt mehr.«
Es war wirklich ganz wenig Geld. Sie sah genauso aus wie vor ein paar Stunden, nur atmete sie nicht mehr.
»Leb wohl, Tante«, sagte ich.
»Noch bin ich nicht fort!«, fuhr sie mich an. Ich stelle immer ihre Geduld auf die Probe. »In diesem Haus gibt es Zimmer, da habe ich noch nicht einmal die Tür geöffnet!«
Ich wußte nicht, was sie meinte. Unser Haus hat nur zwei Zimmer.
»Der Obulus schmeckt merkwürdig«, sagte sie nach langem Schweigen. »Wo hast du ihn her?«
Ich wollte ihr nicht sagen, daß es ein Talisman war, eine kupferne Ziermünze, kein Geld, obschon es so aussah. Ich hatte das Scheibchen ein Jahr oder noch länger in der Tasche getragen, seit dem Tag, als ich es am Tor zur Ziegelei fand. Ich hatte es natürlich saubergeputzt, aber meine Tante hatte eine empfindliche Zunge, und was sie schmeckte, war Hartschlamm, Hundekot, Ziegelstaub und mein Taschenfutter, dazu das Kupfer, wie trocken Blut. Ich tat so, als hätte ich ihre Frage nicht verstanden.
»Wundert mich, daß du ihn überhaupt hattest«, sagte meine Tante. »Soll mich erstaunen, wenn du nach einem Monat ohne mich noch einen Pfennig in der Tasche hast. Armes Ding!« Sie hätte geseufzt, wenn noch Atem in ihr gewesen wäre. Ich hatte nicht gewußt, daß sie sich noch nach ihrem Tod Sorgen um mich machen würde. Ich begann zu weinen.
»Das ist gut«, erklärte meine Tante befriedigt. »Mach das nur nicht zu lange. Ich gehe jetzt nicht weit. Ich will nur unbedingt herausfinden, in welches Zimmer diese Tür führt.«
Sie sah jünger aus, als sie aufstand, jünger als bei meiner Geburt. Sie ging leichtfüßig durch das Zimmer und öffnete eine Tür, von der ich nichts gewußt hatte.
Ich hörte sie mit erfreuter, überraschter Stimme sagen:
»Lila!« Lila war der Name ihrer Schwester, meiner Mutter, gewesen.
»Du meine Güte, Lila«, sagte meine Tante, »du hast hier doch nicht elf Jahre lang gewartet?«
Was meine Mutter sagte, konnte ich nicht hören.
»Es tut mir sehr leid, daß ich das Mädel alleinlassen muß«, sagte meine Tante. »Ich habe getan, was ich konnte, ich habe mein Bestes gegeben. Sie ist ein braves Ding. Aber was wird nun aus ihr werden!« Meine Tante weinte nie, und auch jetzt hatte sie keine Tränen, aber ihre Sorge um mich brachte mich aus Schrecken und Selbstmitleid von neuem zum Weinen.
Meine Mutter kam in Gestalt einer Florfliege aus dem neuen Zimmer und sah mich weinen. Tränen schmecken den Lebenden salzig, aber süß den Toten, und anfänglich gelüstet es sie nach Süßem. Das wußte ich damals noch nicht. Ich war nur heilfroh, meine Mutter bei mir zu haben, selbst als winzige Fliege. Die Freude war von Fliegengröße.
Das war alles, was von meiner Mutter im Haus geblieben war, und sie hatte bekommen, was sie wollte, also ging meine Tante weiter.

Das Zimmer, in das sie trat, war groß und ziemlich dunkel, erhellt nur durch ein Oberlicht, wie ein Lagerraum. Entlang einer Wand standen Spinnrocken voll gesponnenem Flachs in einer Reihe, und dort, wo das Licht durch das Dachfenster hereinfiel, war ein Webstuhl. Meine Tante war ihr ganzes Leben lang eine tüchtige Spinnerin und Weberin gewesen, und die Knäuel aus dünnen, gleichmäßigen Fäden, so fein gesponnen, wie nur sie selbst es je gekonnt hatte, verlockten sie sehr; der Webstuhl war angeschert, und dort lag das Schiffchen bereit. Aber die Leinweberei ist eine Kunst, die viel Sorgfalt verlangt. Wenn sie jetzt mit einem Leichentuch anfing, würde sie lange Zeit daran sitzen, und so sehr sie sich ein schönes Leichentuch wünschte, war sie nie eine Person gewesen, die eine Arbeit begann und sie dann unfertig liegen ließ. Daher kam es, daß sie sich weiter Sorgen darüber machte, was aus mir werden sollte. Sie hatte sich aber entschlossen, die Hausarbeit ungetan zu lassen (Hausarbeit wird ja niemals fertig), und räumte jetzt ein, daß sie das Anfertigen ihres Leichentuchs anderen Leuten übertragen mußte. Sie hoffte, mir wenigstens die Auswahl eines sauberen und gutgeflickten Tuchs überlassen zu können. Sie konnte aber nicht widerstehen, das Fadenende eines der Rocken zu ergreifen und ein Stück zwischen Daumen und Zeigefinger herauszuziehen, um den Faden auf Gleichmaß und Festigkeit zu prüfen, und als sie davonging, ließ sie den Faden zwischen ihren Fingern weiterlaufen.
Es war auch gut, daß sie das tat, weil der neue Raum auf einen Korridor hinausging, der viele Eingänge besaß, von denen jeder in andere Säle und Zimmer führte, ein Labyrinth, in dem sie sich ohne den Flachsfaden gewiß verirrt hätte.
Die Zimmer waren sauber, ein wenig staubig und unmöbliert. In einem der Räume fand meine Tante am Boden Spielzeug, ein hölzernes Pferd. Es war grob geschnitzt, die Vorderbeine in einem Stück, die Hinterbeine ebenso, gewissermaßen ein zweibeiniges Pferd mit runden, flachen Augen, das sie zu kennen glaubte, auch wenn sie sich ihrer Sache nicht sicher war.

In einem anderen langen, schmalen Raum standen viele unbenützte Küchengeräte und Töpfe auf einer Theke, zusammen mit drei Hornknöpfen in einer Reihe.
Am Ende eines langen Korridors, in den sie durch ein Aufschimmern oder eine Lichtspieglung am anderen Ende gelockt wurde, stand eine seltsame Maschine. Sie gehörte gewiß nicht zu den Dingen, die meine Tante schon einmal gesehen hatte. In einem kleinen Raum ohne Oberlicht hing ein starker, durchdringender Geruch in der Luft und füllte den Raum wie ein darin gefangenes Lebewesen aus. Meine Tante verließ dieses Zimmer ganz schnell, verstört.
Obwohl ihre Neugier angeregt worden war, weil sie in ihrem Haus alle diese unbekannten Räume gefunden hatte, vermittelten ihre Erkundungsgänge und die Stille ein Gefühl der Bedrückung und Unbehaglichkeit. Sie blieb kurz vor der Tür des Zimmers mit dem starken Geruch stehen, um einen Entschluß zu fassen. Das dauerte bei ihr nie lange. Sie ging an dem Faden zurück und spulte ihn mit jedem Schritt an den Fingern ihrer linken Hand auf. Dabei mußte man mehr aufpassen als beim Entrollen, und als sie den Blick von einem Fadengewirr löste, sah sie sich verwundert in einem Raum, durch den gekommen zu sein sie sich nicht entsann, obwohl sie ihn kaum hätte durchqueren können, ohne es zu merken, weil er sehr groß war. Die Wände waren aus einem wunderschönen, feinkörnigen Stein von hellgrauer Farbe, in den bestimmte Figuren, wie Astrologenzeichnungen der Sternbilder, und feine Linien, die Sterne oder Sterngruppen miteinander verbanden, in Golddraht eingelegt waren. Die Decke war hell und hoch, der Boden aus abgewetztem, dunklem Marmor. Wie eine Kirche, dachte meine Tante, aber nicht eine religiöse Kirche (das dachte sie jedenfalls). Die Muster an den Wänden glichen den Illustrationen in Lehrbüchern und der Raum selbst dem Lesesaal der riesigen Bibliothek in der Stadt; hier gab es keine Bücher, aber der Ort war majestätisch und von Ruhe erfüllt; er besaß eine gefaßte Stille, die für den Geist meiner Tante sehr angenehm war. Sie hatte das Gehen satt und beschloß, sich dort auszuruhen.
Sie setzte sich, da es keine Möbel gab, auf den Boden in der Ecke nah der Tür, zu welcher der Faden sie geführt hatte. Meine Tante hatte gern eine Wand im Rücken. Seit den Invasionen fühlte sie sich in offenem Gelände nicht wohl und blickte ständig über die Schulter. Aber wer kann mir jetzt noch etwas tun? dachte sie, als sie sich setzte. Genau weiß man es allerdings nie, sagte sie sich.
Die Linien aus Golddraht in den Wänden leiteten ihren Blick, während sie dasaß. Manche der Figuren, die sie bildeten, schienen ihr bekannt. Sie kam auf den Gedanken, daß diese Figuren oder Muster ein Schemaplan des Labyrinths waren, in dem sie sich befand - die Drähte stellten Gänge dar, die Sterne Zimmer; oder die Sterne mochten die Eingänge zu den Räumen sein, deren Wände nicht dargstellt waren. Sie konnte mit ziemlich großer Gewißheit den ersten Korridor zum Raum mit den Spinnrocken zurückverfolgen, aber auf der anderen Seite davon, wo der alte Teil unseres Hauses hätte sein sollen, setzten sich die Muster fort und hatten viel mehr Ähnlichkeit mit den vertrauten Sternbildern am Frühwinterhimmel. Sie war keineswegs sicher, den Plan wirklich zu verstehen, aber sie befaßte sich weiterhin damit und verfolgte in ihren Gedanken die Linien von Stern zu Stern, bis sie ihren Weg zu erkennen begann. Da stand sie auf und trat den Rückweg an, immer dem Flachsfaden nach, den sie durch die Finger gleiten ließ, bis sie zurückkam.

Da war ich, im selben Zimmer, und weinte immer noch. Meine Mutter war fort. Florfliegen warten Jahre, bis sie geboren werden, aber sie leben nur einen einzigen Tag. Die Leute des Leichenbestatters verabschiedeten sich gerade, und ich mußte mit ihnen fort, also ging meine Tante auch auf ihr Begräbnis, obwohl sie das Haus eigentlich nicht verlassen wollte. Sie wollte den Fadenknäuel mitnehmen, aber als sie die Schwelle überschritt, riß der Faden. Ich konnte sie halblaut schimpfen hören, wie sie es immer tat, wenn sie einen Faden abbriß oder Zucker verschüttete - »Verflixt!«, im Flüsterton.
Wir hatten beide nichts von dem Begräbnis. Meine Tante geriet in Panik, als man die Erde ins Grab zurückzuschaufeln begann. Sie rief laut: »Ich kann nicht atmen! Ich kann nicht atmen!« - was mich so erschreckte, daß ich glaubte, das hätte ich gesagt, ich sei am Ersticken. Ich stürzte hin. Die Leute mußten mir aufhelfen und mich nach Hause bringen. Ich war zwischen ihnen so verwirrt und schämte mich dermaßen, daß ich meine Tante aus den Augen verlor. Eine der Nachbarinnen, die früher nie besonders freundlich zu uns gewesen war, empfand Mitleid mit mir und behandelte mich mit großer Güte.Sie sprach so verständig zu mir, daß ich den Mut faßte, sie zu fragen: »Wo ist meine Tante? Wird sie zurückkommen?« Aber sie wußte es nicht und sagte nur Dinge, die mich trösten sollten. Ich bin nicht so gescheit wie die meisten Leute, aber daß es für mich keinen Trost gab, wußte ich.
Die Nachbarin vergewisserte sich, daß ich für mich selbst sorgen konnte, und an diesem Abend schickte sie eines ihrer Kinder herüber, das in einem Topf Abendessen für mich brachte. Ich aß es, und es schmeckte sehr gut. Ich hatte nichts gegessen, während meine Tante in dem anderen Teil des Hauses gewesen war.
Nachts, nach Dunkelwerden, legte ich mich ganz allein ins Schlafzimmer. Zuerst fühlte ich mich wohl und munter, was am Essen lag, und ich tat so, als schliefe meine Tante mit mir im Zimmer, so, wie es immer gewesen war. Dann bekam ich Angst, und in der Dunkelheit wuchs sie an.
Meine Tante kam mitten im Zimmer durch den Boden herauf. Die roten Fliesen wölbten sich und brachen auseinander. Ihr Haar und ihr Kopf schoben sich durch die Fliesen herauf, dann ihr Körper. Sie sah ganz dunkel aus, wie Erde, und war viel kleiner als früher.
»Laß mich sein!« sagte sie.
Ich war zu entsetzt, um sprechen zu können.
»Laß mich gehen!« sagte meine Tante. Aber es war nicht wirklich meine Tante, nur ein alter Teil von ihr, der aus dem Friedhof unter der Erde herausgekommen war, weil ich sie herbeigesehnt hatte. Dieser Teil von ihr gefiel mir nicht, ich wollte ihn auch nicht dort haben. Ich rief: »Geh fort! Geh zurück!« und verbarg mein Gesicht in den Armen.
Meine Tante gab ein leises Knarren von sich, wie ein geflochtener Korb. Ich verbarg meine Augen so lange, daß ich beinahe einschlief. Als ich hinsah, war da niemand oder nur eine dunklere Stelle in der Luft, und die Fliesen waren nicht auseinandergebrochen. Ich schlief ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, stand die Sonne im Fenster, und alles war gut, aber ich konnte nicht über die Stelle im Boden gehen, wo meine Tante durch die Fliesen heraufgekommen war.
Nach dieser Nacht wagte ich nicht mehr zu weinen, weil das Weinen sie zurückholen mochte, um das Süße zu schmecken oder mich auszuschimpfen. Aber seit sie tot und begraben war, fühlte ich mich einsam im Haus. Ich wußte nicht, was ich ohne sie tun sollte. Die Nachbarin kam und sprach davon, Arbeit für mich zu finden, gab mir wieder zu essen, aber am nächsten Tag erschien ein Mann, der vorgab, von einem Gläubiger geschickt zu sein. Er nahm den Kleiderschrank und das Bettzeug mit. Später, am Abend dieses Tgas, kam er wieder, weil er gesehen hatte, daß ich allein gewesen war. Diesmal hatte ich die Tür abgesperrt. Er sprach zuerst schmeichelnd und wollte mich dazu bringen, daß ich ihn hereinließ, dann begann er mit leiser Stimme zu wiederholen, er werde mir etwas tun, aber ich sperrte die Tür nicht auf und gab auch keine Antwort.
Am nächsten Tag kam eine andere Person, aber ich hatte die Bettstatt an die Tür geschoben. Es kann das Kind der Nachbarin gewesen sein, aber ich wagte nicht hinauszusehen. Ich fühlte mich sicher, wenn ich im Hinterzimmer blieb. Andere Leute kamen und klopften, aber ich antwortete nie, und so gingen sie wieder.
Ich blieb in dem rückwärtigen Raum, bis ich endlich die Tür sah, durch die meine Tante jenem Tag gegangen war. Ich trat hin und öffnete. Ich war überzeugt davon, sie würde da sein. Aber das Zimmer war leer. Der Webstuhl war verschwunden, die Rocken waren fort, niemand war da.
Ich ging in den Korridor hinter dem Zimmer, aber nicht weiter. Ich hätte mich allein nie durch alle diese Säle und Zimmer hindurchfinden oder das Muster der Sterne verstehen können. Ich hatte solche Angst und fühlte mich so elend, daß ich zurückging und mich verkroch.
Meine Tante kam, um mich zu holen. Sie war verärgert. Ich stelle stets ihre Geduld auf die Probe. Sie sagte nur: »Komm mit!« Und sie zerrte mich an der Hand mit. Einmal sagte sie: »Schäm dich!« Als wir das Flußufer erreichten, sah sie mich mit strengem Blick von oben bis unten an. Sie wusch mein Gesicht mit dem dunklen Wasser dieses Flusses und preßte mein Haar mit den Handflächen an meinen Kopf. Sie sagte: »Das hätte ich mir denken können.«
»Es tut mir leid, Tante«, sagte ich.
»Ja freilich«, sagte sie. »Jetzt komm mit. Mach schon!«
Denn das Boot war über den Fluß gekommen und machte am Steg fest. Wir gingen im Halbdunkel durch das Schilf zum Steg hinunter. Die Sonne war schon untergegangen, und man sah weder Mond noch Sterne. Es blies kein Wind. Der Fluß war so breit, daß ich das andere Ufer nicht sehen konnte.
Meine Tante feilschte mit dem Fährmann. Ich überließ das ihr, weil mich die Leute immer übervorteilten. Sie hatte den Obulus von ihrer Zunge genommen und redete auf ihn ein. »Meine Nichte, siehst du nicht, wie es steht? Natürlich hat man ihr das Fährgeld nicht gegeben! Sie kann nichts dafür! Ich begleite sie, um für sie zu sorgen. Hier ist das Fährgeld. Ja, für uns beide. Nein, kommt nicht in Frage«, und sie zog ihre Hand zurück, nachdem sie ihm das Kupferstück nur gezeigt hatte. »Nicht, bis wir beide sicher übergesetzt haben!«
Der Fährmann blickte finster, begann aber die Leine zu lösen.
»So komm!« sagte meine Tante. Sie stieg ins Boot und hielt mir die Hand hin. Und da folgte ich ihr.

Ursula K. Le Guin (übersetzt von Tony Westermayr) · 1929-2018

Bemerkung: Riley fuhr einmal betrunken Auto und verursachte einen Unfall, bei dem eine junge Frau ums Leben kam. - Erin hatte gerade eine Fehlgeburt.

Erin: "Was passiert, wenn du stirbst?"

Riley: "Wenn ich sterbe, hört mein Körper auf zu funktionieren. Einfach Schluss. Auf einmal oder allmählich hört meine Atmung auf, mein Herz hört auf zu schlagen - klinischer Tod. Und etwas später, so etwa 5 Minuten später, beginnen meine Gehirnzellen zu sterben. Aber in der Zwischenzeit, dazwischen, setzt mein Gehirn vielleicht eine Flut von DMT frei. Das ist die psychedelische Droge, die freigesetzt wird, wenn wir träumen. Also träume ich. Ich träume heftiger als ich es jemals getan habe, denn jetzt kommt alles, dieser letzte Schub DMT, alles auf einmal. Und meine Neuronen brennen und ich sehe dieses Feuerwerk aus all meinen Erinnerungen und Vorstellungen und ich bin einfach auf einem Trip, auf einem total krassen Trip, weil mein Verstand die Erinnerungen durchwühlt, Langzeit- und Kurzzeiterinnerungen. Und die Träume vermischen sich mit den Erinnerungen und - eine letzte Show. Der Traum, der alle Träume beendet, ein letzter großer Traum, während mein Verstand die verdammten Raketensilos entleert und dann war's das. Meine Gehirnaktivität erlischt und es ist nichts mehr von mir übrig. Kein Schmerz, keine Erinnerung, kein Bewusstein, dass ich jemals existierte, dass ich jemanden verletzt habe - jemanden getötet habe. Und alles ist so, wie es vor mir war. Und die Elektrizität entweicht aus meinem Gehirn, bis es nur noch totes Gewebe ist. Fleisch. Vergessen.

Und all die anderen kleinen Dinge, die mich ausmachen, die Mikroben und Bakterien und die Milliarden anderer kleinen Dinge, die auf meinen Wimpern und in meinen Haaren und in meinem Mund und auf meiner Haut und in meinem Darm und überall sonst noch leben, die leben weiter. Und essen. Und ich erfülle einen Zweck. Ich nähre das Leben. Ich bin auseinander gebrochen und die kleinsten Teile von mir sind einfach recyclet und ich bin an Milliarden von anderen Orten. Und meine Atome sind in Pflanzen und Käfern und Tieren und ich bin wie die Sterne, die am Himmel sind. Einen Moment da und dann einfach über den gottverdammten Kosmos verstreut.

Jetzt du. Was passiert, wenn du stirbst?"

Erin: "Soll ich für mich sprechen?"

Riley: "Ja, sprich für dich."

Erin:" Nein. Nicht für mich. Ich bin heute nicht gestorben.

Sie war niemals wach. Als sie in diesen kleinen Körper hinunter kam, diesen sich gerade bildenden kleinen Körper, schlief sie. Zu träumen war alles, was sie kannte. Sie hat immer nur geträumt, sie hatte nicht mal einen Namen. Und dann in ihrem Schlaf hat dieser perfekte kleine Geist sich einfach erhoben. Weil Gott sie nicht geschickt hat, um durch das Leben auf der Erde zu leiden, nein. Dieser Geist, diese besondere kleine Seele - Gott hat sie hier nur zum Schlafen runtergeschickt. Nur ein kleines Nickerchen, ein kurzer Traum. Und dann hat er sie wieder zurückgerufen. Also ging sie zurück. Genau so, wie sie hinunterschwebte, stieg sie über die Erde auf. Vorbei an allen Seelen in der Atmosphäre und allen Sternen am Himmel und dann in ein wundervolles helles Licht. Und dann, zum ersten Mal, ist sie aufgewacht. Sie ist eingehüllt in ein Gefühl der Liebe. Reine, überwältigende Liebe, was auch sonst. Sie ist rein. Sie hat nie gesündigt. Sie hat niemals ein Lebewesen verletzt, nicht mal ein Insekt.

Und sie ist nicht allein. Sie ist zuhause. Und da sind Leute, und sie weiß es nicht, aber sie sind ihre Familie. Ihr Großvater, ihr Urgroßvater, und sie lieben sie, sie geben ihr einen Namen. Und dann, wenn Gott sich herabbeugt und ihren Kopf küsst, in der Sekunde, in der er ihren Namen sagt, wird sie erwachsen. Ganz plötzlich. Sie ist perfekt. So, wie sie an ihrem besten Tag auf der Erde gewesen wäre. Ihr perfektes Alter, der Gipfel ihrer selbst. Sie erzählen ihr von ihrer Mutter hier unten auf der Erde, und dass ich bald da sein werde. Und sie ist glücklich, und nichts als Freude bis in alle Ewigkeit. Sie wird geliebt. Und sie ist nicht allein.

Und das meinen wir, wenn wir Himmel sagen. Keine Villen, keine Flüsse aus Diamanten, keine Wolken oder Engelsflügel. Du wirst geliebt. Und du bist nicht allein. Das ist Gott. Das ist der Himmel. Und deshalb ertragen wir das alles auf diesem großen blauen traurigen Felsen. Ich komme da früh genug hin. Und ich werde meinen Vater sehen. Und meine Großmutter. Und ich werde meine kleine Tochter sehen, und sie wird glücklich und in Sicherheit sein. Und ich werde so froh sein, sie zu treffen."

Riley: "Ich hoffe, du hast recht."

Bemerkung: Erin liegt im Sterben. Riley spricht in ihren Gedanken zu ihr.

Riley: "Was passiert dann?"

Erin: "Was?"

Riley: "Wenn wir sterben, was passiert dann?"

Erin: "Ja, Scheiße, was passiert dann?"

Riley: "Was denkst du, was passiert, wenn wir sterben, Erin?"

Erin: "Soll ich für mich selbst sprechen?"

Riley: "Ja, sprich für dich selbst."

Erin: "Mich selbst. Mich selbst. Das ist das Problem. Das ist das große Problem an der ganzen Sache. Dieses Wort: Selbst. Das ist nicht das Wort. Das ist nicht richtig, das ist nicht ... das ist es nicht. Wie konnte ich das vergessen? Wann habe ich das vergessen?

Der Körper stoppt eine Zelle nach der anderen. Aber das Gehirn feuert weiter diese Neuronen ab. Kleine Blitzstrahlen, wie ein Feuerwerk im Inneren, und ich dachte, ich würde Verzweiflung oder Angst verspüren, aber ich fühle nichts davon. Nichts. Weil ich zu beschäftigt bin. In diesem Moment bin ich zu beschäftigt, mit Erinnerungen. Natürlich. Ich erinnere mich, dass jedes Atom in meinem Körper in einem Stern geschmiedet wurde. Diese Materie, dieser Körper ist letztendlich überwiegend nur leerer Raum. Und feste Materie, das ist nur Energie, die sehr langsam vibriert. Und es gibt kein Ich. Das gab es nie. Die Elektronen meines Körpers verteilen sich und tanzen mit den Elektronen des Bodens unter mir. Und mit der Luft, die ich nicht länger atme. Und ich erinnere mich: es gibt keinen Punkt, wo all das endet und ich anfange. Ich erinnere mich, ich bin Energie, nicht Gedächtnis, nicht Selbst. Mein Name, meine Persönlichkeit, meine Entscheidungen, das kam alles mach mir. Ich war vor ihnen und ich werde danach sein. Und alles andere sind Bilder, die auf dem Weg entstanden sind. Vergängliche kleine Kurzträume, die auf das Gewebe meines sterbenden Hirns gedruckt wurden. Und ich bin die Blitze, die dazwischen zucken, ich bin die Energie, die die Neuronen feuert. Und ich kehre zurück. Nur durch Erinnerungen kehre ich nach Hause zurück. Und es ist, als würde ein Wassertropfen zurück ins Meer fallen, von dem er immer ein Teil war. Alle Dinge - ein Teil. Alle von uns - ein Teil. Du, ich und meine kleine Tochter, meine Mutter und mein Vater - alle, die jemals waren, jede Pflanze, jedes Tier, jedes Atom, jeder Stern, jede Galaxie, alles. Es gibt mehr Galaxien im Universum als Sandkörner am Strand, und das meinen wir damit, wenn wir Gott sagen. Das Eine. Der Kosmos. Und seine endlosen Träume.

Wir sind der Kosmos, der von sich selbst träumt. Es ist einfach ein Traum, den ich für mein Leben halte. Jedes Mal. Aber ich vergesse ihn, so wie immer. Ich vergesse meine Träume immer. Aber jetzt, in dem Bruchteil dieser Sekunde, in dem Moment, in dem ich mich erinnere, in dem Augenblick, in dem ich mich erinnere, verstehe ich alles zugleich. Es gibt keine Zeit. Es gibt keinen Tod. Das Leben ist ein Traum, ein Wunsch. Der wieder und wieder und wieder und wieder und wieder und wieder unendlich oft gewünscht wird. Und ich bin alles davon. Ich bin alles, ich bin alle. Ich bin, das ich bin."

Zitat-Sammlung

Ich bin in guter Laune in einer üblen Gegend.

Fehlfarben · Agenten in Raucherkinos


The sciences, each straining in its own direction, have hitherto harmed us little; but some day the piecing together of dissociated knowledge will open up such terrifying vistas of reality, and of our frightful position therein, that we shall either go mad from the revelation or flee from the deadly light into the peace and safety of a new dark age.

H. P. Lovecraft


In ancient times, if you were sick
They make you bleed.
Oh honey, I know it hurts.

Rasputina · Signs of the Zodiac

Es fürchtet sich der Witz vor der Pointe:
‚Was mach ich bloß, wenn wieder keiner lacht?
Wird doch bald kein Arsch mehr an mich denken
und ich war nur ein Witz für eine Nacht.‘

Die Sterne · Inseln


I wish that I was born a thousand years ago
I wish that I'd sail the darkened seas
On a great big clipper ship
Going from this land here to that

Velvet Undergound · Heroin